15.03.2022
Das weltweite Baugeschehen hängt bei CO2-Emissionen den Flugverkehr um das Vierfache ab. Bambus kann sich mit Stahl messen. Leerstehende Gebäude und ausgestorben wirkende Ortskerne schmälern das Bruttosozialprodukt. Regionales Obst und Gemüse verhelfen auch der Wirtschaft zu mehr Gesundheit. Und bei den Lebensräumen kann ein „Zurück zu den Wurzeln“ eine nicht nur ökologisch sinnvolle Zukunftsperspektive sein. Der Themenschwerpunkt „Lebenswerter Wirtschaftsraum“ regte beim OÖ Zukunftsforum 2022 zum Umdenken an. Die Veranstaltung der oö. Standortagentur Business Upper Austria am 8. und 9. März war mit 45 Vorträgen, Workshops und 400 Besucher:innen das bisher hochkarätigste Wirtschaftssymposium in diesem Jahr.
Eine zu komplizierte Sicht der Dinge kann den Weg zu einfachen Lösungen oft erschweren: Mit diesem Satz lassen sich viele Erkenntnisse der Session „Lebenswerter Wirtschaftsraum“ auf den Punkt bringen. Aus leerstehenden Betriebsgebäuden können vitale Standorte entstehen, in denen ein qualitativ hochwertiges Miteinander aus Leben und Arbeit auch unter ökologischen Gesichtspunkten möglich ist. In einer derartigen Cloud stehen nicht mehr Gewinnmaximierung, Neid und Ellbogenmentalität im Vordergrund. Der Alltag wird in Zukunft von einer kollektiven Wertschöpfung geprägt: Carsharing, regionale Autarkie, bedarfsorientierte Aus- und Weiterbildung und auch Poollösungen bei den Arbeitskräften. Der wirtschaftliche Aspekt dieser ökonomischen und ökologischen Transformation von global zu regional liegt auf der Hand. Passend zur integrierten Kreislaufwirtschaft als Teil der Lösung, zirkuliert im Idealfall auch das Geld – von den Unternehmen zu den Menschen und zurück. Die Mitarbeiter:innen sind gleichzeitig Kund:innen.
Dass die Abkoppelung von den globalisierten Märkten nicht immer möglich und sinnvoll ist, steht außer Zweifel. Aber darum geht es aus Sicht der Expert:innen nur marginal. Im Idealfall ist im Jahr 2035 der regionale Lebensraum auch das Umfeld für Arbeit, Bildung, Kultur und Freizeit. Lange Pendlerstrecken und chaotische Staus gehören der Vergangenheit an. Büros verlieren mehr und mehr ihre Bedeutung, weil der Fokus in manchen Branchen auf Homeoffice ausgerichtet ist. Die Stolperfalle bei diesen regional bereits real existierenden Arbeitswelten wurzelt in der humanoiden DNA, die vor Urzeiten auf „Jäger und Sammler“ programmiert wurde. „Das Dilemma liegt oft darin, dass sich Menschen nur ungern von ihrem Besitz trennen wollen. Das fängt bei so manchem Ramsch in der Wohnung an und endet bei Gebäuden, die wirtschaftlich sinnvoll genutzt werden könnten“, betonte Gisa Schosswohl von „Into Projekts“. Ihr Ansatz: „Kreativwirtschaft ist ein Booster gegen den Leerstand.“
Die Entwicklungen gehen weg vom Lohnempfänger, der 45 Jahre lang und 40 Stunden pro Woche im gleichen Betrieb aus- und einstempelt und am Ende die Tage bis zur Rente zählt. „In der modernen Arbeitswelt sind es nicht nur – aber vor allem – junge Menschen, die Work-Life-Balance statt steiler Karriere favorisieren“, sagte Martin Heintel von der Universität Wien. Aus seiner Sicht sind beide Bereiche nicht wirklich zu trennen, denn Arbeit ist Leben. „Wer halb lebt und halb arbeitet, vernachlässigt beide Bereiche.“ Deshalb ist es sinnvoller, das Wort „Balance" durch „Dynamik" zu ersetzen und daraus Work-Life-Dynamik zu machen. Wer in der Lage ist, sich schnell an neue Situationen anzupassen, wird im Vorteil sein. Selbstmanagement, Selbstführung und Selbstorganisation gewinnen an Bedeutung. Die Flexibilität der Arbeit wird vorangetrieben, sodass es möglich wird, von jedem Ort aus und zu jeder Zeit zu arbeiten. Damit schließt sich wiederum der Kreis zu den kleinräumigen und regionalen Lebensräumen, die einer lange präferierten Zentralisierung zum Opfer gefallen sind. Die Cloud 2035 ist autark und smart – mit eigener Energieversorgung, perfekter Infrastruktur für alle Generationen und Hochleistungsservern, deren Abwärme zum Heizen genutzt werden kann. Davon sind wir gegenwärtig noch ein Stück entfernt.
Lebensraum ist auch Wohnqualität und besonders in diesem Bereich kommen wieder Klimaschutz, Ökologie und Kreislaufwirtschaft ins Spiel. Der ORF-Redakteur und ZIB-Moderator Tarek Leitner hat sich als Buchautor der Thematik gewidmet und aufgezeigt, wie unsere schöne Landschaft in den vergangenen Jahrzehnten verschandelt wurde. Ein Brennpunkt ist aus Sicht des Journalisten die Flächenversiegelung: „In Österreich wird täglich die Fläche eines mittelgroßen Agrarbetriebs zubetoniert, während gleichzeitig die Ortszentren gespenstisch menschenleer wirken.“ Greißler und Wirtshäuser sind verschwunden, während an der Peripherie – meist zwischen Kreisverkehr und Umfahrungsstraße – die großen Shoppingcenter neonbeleuchtet die Konsument:innen umgarnen. Oft nur motorisiert zu erreichen und aus Beton errichtet, sind sie für die Ziele der Klimawende eher kontraproduktiv. Ob sie 2035 walmart’sche Dimensionen angenommen haben, lässt sich schwer voraussagen. Ein Umdenken kann und wird es bei den Baustoffen geben. Sigi Atteneder von der Kunstuniversität Linz bringt es auf den Punkt.
Der Bausektor belastet das Klima vier Mal so stark wie der gesamte Flugverkehr, dessen Anteil am CO2-Ausstoß bei rund zwei Prozent liegt. Die Zementproduktion von vier Milliarden Tonnen pro Jahr verursacht acht Prozent der CO2-Emission. Der Professor sieht die Zukunft auch in Baustoffen, die in unseren Breiten wenig präsent sind: „Bambus ist – richtig verwendet – stabil wie Stahl, aber biegsamer“, betonte Atteneder mit Hinweis auf Städte in Asien, wo Hochhäuser mit Gerüsten pflanzlichen Ursprungs errichtet werden. Heimische Beispiele sind Lehm und vor allem Holz, mit dem nicht nur Wohnhäuser, sondern große Fertigungsstätten wie das Ricola-Kräuterzentrum in Laufen entstehen.
Beim Thema Versiegelung, Zersiedelung und globale Wirtschaft ließ Atteneder erneut die Zahlen für sich sprechen: Zehn Prozent weniger Lebensmittelimporte würden das Bruttoinlandsprodukt um rund 1,8 Milliarden Euro erhöhen und im Inland geschätzt 21.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Die Ausweitung des Anbaus von Obst, Gemüse und Erdäpfel könnten allein in Oberösterreich 351 Millionen Euro generieren und bis zu 1.000 Jobs etablieren. Positiver Nebeneffekt: Bei regionalen Lebensmitteln stimmt die Qualität. Hier schließt sich wiederum der Kreis zur Regionalentwicklung. Atteneder plädiert für energiesparende Bauweise mit leicht verwertbaren Baustoffen, Schaffung einer Infrastruktur für Recycling via Baustoffbörsen und die Nutzung sowie Instandhaltung bestehender Gebäude. Idealkombination aus dem Blickwinkel des Experten: Ökologische Baustoffe, Ausschöpfung aller natürlichen Ressourcen sowie gute Architektur in Kombination mit gut bezahlten, wertgeschätzten Jobs. Die höheren Kosten sollten sich langfristig amortisieren. „Qualität rechnet sich langfristig immer“, ist Atteneder überzeugt.
Rund 40 Prozent des weltweiten Verbrauchs an Ressourcen werden für die Errichtung von Gebäuden und Infrastruktur genutzt. „Wir bauen jedes Jahr eine Mauer rund um den Äquator – 20 Meter hoch und 20 Meter dick“, zog Theresa Mai, Gründerin der WW Wohnwagon GmbH einen bildlichen Vergleich. Eine der Antworten darauf könnte die Autarkie sein, die sich auf Bauen mit natürlichen Ressourcen beschränkt und ökologisch im Sinne der Kreislaufwirtschaft agiert. In Gutenstein in NÖ hat die Start-up-Unternehmerin ein auch international beachtetes Projekt einer „Sharing Economy“ hochgezogen. Die Firma WW Wohnwagon erzeugt in Handarbeit 15 bis 33 Quadratmeter große Holzhäuser, die mobil sind und eine eigene Energie- und Wasserversorgung haben. Zentrum der Dorfgemeinschaft ist ein revitalisierter Gasthof als Unternehmenszentrale, Seminarzentrum und mit Zimmern ausgestattet, in denen ein Teil der Mitarbeiter:innen wohnt. Die Genossenschaft lebt Kreislaufwirtschaft pur. Konsumiert werden ausschließlich regionale Produkte, als Dienstleister wird den Betrieben „um’s Eck“ vertraut und im Idealfall kauft sich jemand aus der Gemeinschaft ein Wohnwagon-Haus. „Damit schließt sich auch der Geldkreislauf, wenn der Euro dort landet, wo er ausbezahlt wurde“, sagte Theresa Mai.
Christian Kolarik kann aus Sicht der Politik und der Wissenschaft sprechen. Der frühere Außenhandels- und EU-Delegierte des Landes ist als Betriebswirt an der Linzer Johannes Kepler Universität tätig und gleichzeitig Bürgermeister der Gemeinde Kronstorf. In der von ihm mitbegründeten Powerregion Enns-Steyr ziehen acht Gemeinden an einem Strang. Ziel ist die nachhaltige Entwicklung der Region: als Lebensraum, als Naturraum und als Wirtschaftsraum. Die Powerregion soll international als attraktive Wirtschaftsregion wahrgenommen werden. Erschlossene Betriebsflächen, eine gute Verkehrsanbindung und die voll ausgebaute Infrastruktur sind eine Voraussetzung dafür. Ein ebenso großes Augenmerk liegt auf Standort-Umfeldfaktoren: Lebensqualität, Natur- und Landschaftsressourcen, Räume für Arbeit, Ausbildung, Freizeit und Wohnen. Der Wirtschafts- und Lebensraum wird von den acht Gemeinden gemeinsam entwickelt.
Michaela Pelzmann, VOSSEN: Kreative Impulse für Industrieunternehmen am Beispiel des Creative Hackatathon
Günther Sterlike, Wirtschaftsraum Amstetten GmbH: Leerstände transformieren am Beispiel Amstetten
Andreas Kettenhuber, Kommunalkredit Austria: Nachhaltige Infrastrukturprojekte unter dem Gesichtspunkt der EU-Taxonomie
Tanja Tötzer, AIT, Austrian Institute of Technologie, GmbH: Klimaresillienz als Schlüssel für eine lebenswerte Stadt von morgen
Rupert J. Baumgartner, Universität Graz: Welchen Beitrag leistet Ihr Produkt zu einer nachhaltigen Zukunft?
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